Eiswälder
- Jakob Burgi
- 2. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Eiswälder umranden die Altstadt. Marco steht am Fenster und blickt auf den drohenden Schatten des Königsstuhls der die sich um ihn wiegenden, sanft umgrenzenden Gipfel des sonstigen Waldes über den Dächern eingefroren hat. Es ist die Zeit der flackernden Gedanken an warmem Ofen, der Wärme auch im Gespräch, aber das muss auch, sie kochen heute Abend mit den Jungs und trinken die ganze Zeit Glühwein. Es ist nicht der aus den Supermärkten gepanschte, dieser ist besser. Am nächsten Morgen werden sie keine Kopfschmerzen haben. Es ist ihr eigenes Rezept, dass sie im Laufe der Jahre perfektionieren. Je öfter sie ihn trinken, desto mehr finden sie heraus. Die gerösteten Nelken, braun gebrannte Zitrone und rosaner Pfeffer. Es erinnert ihn daran, wenn er lang an einem Stück für die Gitarre sitzt, wenn es gut ist, findet er immer wieder Spaß das Lied neu zu entdecken, einfach nur die gleiche Stelle im Kreis spielend. Er hätte gerne jemanden gehabt, mit dem er das teilen kann, aber die Jungs waren da keine für was die Gitarre angeht. Sie hatten andere Qualitäten.
Die Eiswälder verlangen von ihm, erkundet zu werden. Er nimmt das Fahrrad auf die andere Neckarseite, zum einen, weil es schneller geht, zum anderen, weil er das Rauschen liebt, das entsteht, wenn er mit dem Fahrrad schnell über das Kopfsteinpflaster zwischen Uniplatz und Triplexmensa fährt. Abertausende von Bussen haben die kleinen quadratischen Steine (es handelt sich um die freundliche Art Kopfsteinpflaster) in Zusammenarbeit mit dem Regen der vergangenen Jahrzehnte beständig gelockert, sodass, wer jetzt darüber fährt, über hunderte kleine steinerne Schalterchen fährt. Aus unerfindlichen Gründen hat der Erosionsprozess bewirkt, dass sich mittig unter jedem Stein ein Hubbel befindet, über den er unermüdlich und lautstark kippelt. Das klackernde Rauschen, das Mario an einen Gebirgsbach, aber sicher an keine andere Stadt erinnert, hat auch diesmal damit zu tun, dass er an jener Stelle besonders gerne schnell fährt. Je schneller er ist, desto Lauter der Bach. Heute geht das Rauschen in der lauten Menschenmenge der Hauptstraße unter, aber er spürt es unter dem springenden Hinterrad. Wenn die Straßen richtig zu steigen beginnen, wird er sein Rad abstellen.
Der Waldrand gesäumt von fleckigem Laub, folgt er den Wegen meist alleine, moosbegleitet da wo altes Gemäuer die Stille durchbricht. Als der Pfad in der Senke die Straße kreuzt, beginnt der Eiszauber nach dem er gesucht hat, er traut sich kaum die Grenze in das erstarrte Bild aufzubrechen. Auf den Falten in seiner Kleidung bildet sich Reif bis auf die Stellen, in denen zu viel Bewegung ist. Er haucht auf die Handschuhe, vor seinen Augen gefriert sein Atem an der äußersten Schicht des Stoffes. Der Wald knistert. Marco verliert seine Welt aus den Augen. Er sieht nur noch eisbekränzte Blätter, Äste mit Windfahnen, gefrorene Heidewiese die kein Wind mehr bewegt, vom Eis fixierte Tunnel zwischen den Sträuchern. Spitze Steine zwischen dem Schlamm, der zusammen mit dem Eis faserige Strukturen ausgebildet hat, durch die er trotzdem bricht, aber keine Tiere. Oben angekommen stoppt er an der spärlich besuchten Station der Bergbahn. Massige, vereist wirkende Wolken sitzen im Neckartal, ersticken die Rheinische Tiefebene in ihrer ganzen Fläche, und darüber geht glitzernd die Sonne unter. Noch ist ihre Iris beginnend dunkelgelb.
»Was für ein wundervoller Tag, findet ihr nicht?« fragt er ein Pärchen, die neben ihm an der Reling lehnen. Eine der beiden klappert mit den Zähnen, aber nickt enthusiastisch. »Joa« sagt ihre Freundin,
»Ich hab lang nicht mehr so ein verrücktes Leuchten gesehen wie heute von der Sonne.«
Er verguckt sich in das Spektakel, und folgt der langsam sich über den Eiswald senkenden Dunkelheit mit bald alamierten Gedanken. Durch den Wald absteigen will er nicht. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagt ihm, dass der Bus, den er nehmen will, in wenigen Minuten kommen wird. Er reißt sich erschlaffend los. Die Abfahrt in der kleinen Überlandverbindung wenige Minuten später schüttelt ihn bis auf die Knochen durch. Als sie die vereiste Böschung hinter sich lassen taut auch er wieder auf. Die Stadt ist lebendig, er geht erleichtert im Lärm unter als er sein Fahrrad aufschließt und sich auf den Weg nach Hause macht.
Unten ist das Laub auf den Straßen noch glitschig. Es gibt ihm das Gefühl, als würde die Winter absichtlich sein Kommen verzögern, als gäbe es etwas zu warten, gehen er doch nur den halben Weg in die Stadt. Trotzdem fröstelt er im Angesicht der schon lang kahlen Hügelwälder und des tief liegenden Lichts. In den langen Schatten ist der Winter trotzdem schon da.
Am Bismarkplatz öffnen sich die Häuserreihen, und er lässt ihre langen Schatten hinter seinen Schritten liegen. Erschwingt von der schwachen Wärme der Sonne nähert er sich der Theodor–Heuß-Brücke. Winter ist dann, wenn einen das Licht auf dem Gesicht nicht mehr wärmt, sagt er sich, ein bisschen Zeit haben wir noch. Aus dem kleinen Bismarkpark in der Platzmitte winkt ihm eine Kommilitonin zu, »Hallo Amelie« ruft er. Sie füttert ein paar Tauben auf dem Denkmal und ruft etwas, das der Straßenlärm übertont. Er winkt ihr fröhlich zu und belässt es dabei, sie sieht beschäftigt aus. Auf der Brücke wehen ihm alte taumelnde Laubblätter um das Gesicht. Er liebt den kraftvollen Wind seiner Neckarstadt, fortwährend belagert eine Brise die Stadt und belebt seinen Geist und spült durch die Gedanken der Leute. Sommer oder Winter gibt er ihm das Gefühl sich draußen austoben zu wollen, dem Wind hinterher zu tollen und sich treiben zu lassen. Der Neckar unter der Brücke ist anders, er hat eine braune Farbe angenommen und schiebt sich träge durch die ausgeblichenen Wiesen. Er schaut ihm nach wie er unansehnlich zwischen den Pfeiler der Brücke hindurch quillt. Er hebt den Blick auf den von Eis und Abendlicht schimmernden Wald, der die Pracht der ihn säumenden Villen und Verbindungshäuser am Nordufer des Neckars nur betont. Man sieht sie von überall in der Stadt, auch auf der Wanderung hat er sie immer wieder gesehen, das heißt aber auch, sie sehen die ganze Stadt. Er kann sich das Panorama nur vorstellen, aber mit Sicherheit ist es ziemlich beeindruckend, die Altstadt in ihrer waldhaften Auskerbung vor sich fassen zu können, zwischen Odenwald und Königsstuhl zurückgezogen. Wer hinüberschaut sieht Burg, darunter Kirche und Uni, weiter vorne Marstall, Stadthalle und das Gymnasium. Er späht seinen Vorstellungen vom Brückenkopf aus nach, und geht fröhlich durch die Brückenstraße, besieht bei der Kamera die neuesten Filmplakate und grüßt die Verkäuferin des Blumenladens. Dann schwingt er sich auf sein Fahrrad und fährt den Rest des Weges nach Hause, freut sich auf den Abend.
Dieser Text wurde am 1. März 2025 bei der Lesung »Versteckte Erinnerungen zwischen Marktplatz und alten Gassen« vorgetragen. Die Lesung wurde von Leila Mousavi für den Stadtteilverein Neuenheim organisiert. Mitgewirkt haben als Autor:innen Bella Bender, Jakob Burgi, Patrizia Hinz, Katrin Uhrich und Leila Mousavi sowie Torsten und Leonard Bur als Musiker.

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