Fallhöhe. Oder: Kokain aus der vierten Etage
- Bella Bender
- 26. März
- 9 Min. Lesezeit
Es ist der 4. April, sechzehn Uhr einundvierzig.
Der Kiosk am Danteplatz ist gut besucht. Drei Männer bestellen Obstler, eine Studentin mit kurzem blonden Haar läuft mit einem Bier in der Hand zu ihren Freunden. Es riecht nach Pommes, Zigarettenrauch und Currywurst. Kiosk eben. Hinter den Fenstern werden Teller gespült, ein Bericht im Radio übertönt das Klappern. Inflation auf dem höchsten Stand seit …
Es sei eben eine vermaledeite Zeit, brummt der Mann mit der Schirmmütze, der sich auf der Bank vor dem Fenster niedergelassen hat.
Im Jugendstilbau gegenüber, in der vierten Etage, wird ein Wesen wach, das nicht verdrängen möchte. Das Fell gesträubt leckt es sich die Tatzen und spannt die Muskeln an. Das zweite Fenster von links, vierter Stock, fliegt auf.
Die Besucher bemerken es spät. Einzig die Studentin hebt den Kopf, kneift die Augen zusammen und erkennt eine große, dunkelhaarige Frau am Balkonfenster. Vierter Stock, zweites Apartment von links. Sie trägt nur ein Unterkleid aus weißem, glänzendem Stoff und wirft einen Gegenstand über die Brüstung. Die Studentin legt den Kopf schief, als sei das alles eine optische Täuschung, dem Alkohol geschuldet, der bereits in ihrem Blut kreist. Es kann ja nicht sein, diese Wut, öffentlich. Einfach so.
– Kann es nicht? Einfach so?
Mehr Leute sehen hinauf. Was ist da los?
Kioskbesitzer: Aktuell ist aber auch alles, was die Menschen tun, ein einziger Schrei nach Hilfe.
Ein paar Blätter flattern vom Balkon. Die älteren Männer vom Nebentisch beginnen, der wütenden Frau nachzupfeifen.
Sie wirft einen Karton vom Balkon, weißes Pulver verteilt sich auf dem Bürgersteig. Schließlich öffnet sie eine Flasche Rotwein und raucht ein paar Zigaretten.
Eine ältere Dame überquert den Platz und zieht eine Einkaufstasche auf Rollen hinter sich her.
Ältere Dame: Nun ist’s aber gut. Ihr jungen Frauen wisst nie, wann Schluss ist! Was ist das da auf dem Gehsteig? Kokain? Sind Sie auf Drogen? Wenn das so weitergeht, klingelt bei Ihnen die Polizei!
Wütende Frau: Na tun Sie sich mal keinen Zwang an.
Die wütende Frau schaut amüsiert nach unten. Ihr Haarschopf verschwindet unter der Balkonbrüstung. Die Menge sieht nur noch Rauchwölkchen aufsteigen.
I. Coupons und ein übergriffiges Vitamin-C-Serum
Es gibt Klischees und es gibt Klischees, findet Jenna. Manche sind im Kern ein bisschen wahr, einige eher ein gefundenes Fressen für lauwarmes Stand-up.
So wie der Beinahe-Großen-Liebe über den Weg zu laufen, wenn man gerade im Lieblingscafé einen Flat White bestellt und diesen mit Coupons bezahlt hat, die einem der Ex-Partner zum Ex-Jahrestag geschenkt hat. Nein, die Beinahe-Große-Liebe und der Ex-Partner sind nicht die gleiche Person, natürlich nicht.
Was konnte Jenna denn dafür? Ari hat sie erst gesehen, als sie vor sich hin murmelnd etwas Trinkgeld in das Glücksnilpferd auf der Theke fallen ließ und mit dem Bambusbecher in der Hand ihren Spaziergang fortsetzen wollte. Da sah sie ihn in der Schlange stehen, leicht grinsend und die Augenbrauen hochgezogen.
Jenna: Scheiße. Ich dachte, du bist in Amerika.
Ari: Ja, Jenna, ich finde es auch schön, dich zu sehen.
Ari lachte und gab seine Bestellung ab. Jenna hätte es mitaufsagen können wie einen Kinderreim.
Ari: Café Americano. Eine Handbreit heißes Wasser, kein Zucker, danke. Schönen Tag noch!
Jenna wartete unter einem der Sonnenschirme und prüfte ihr Spiegelbild in der Scheibe.
Aris und ihr letztes Treffen war fünf Jahre her. Kein Grund, sich zu verstecken. Ganz gleich, was das Vitamin-C-Serum im Spiegelschrank ihr gestern Nacht an Gemeinheiten zugezischt hatte.
Das Vitamin-C-Serum war ein hinterhältiges Wesen. Wenn alles still wurde, rümpfte es die Schnauze und schnüffelte herum, bis es einen Spalt in der Tür entdeckte, die sonst verschlossen war. Eben diese Tür, die jede, wirklich jede Frau kannte. Eine Tür, die Jenna fast permanent zuhielt und sich manchmal sogar von innen mit dem ganzen Körpergewicht dagegen drückte. Sie wusste schon, wieso.
Denn sobald sie einmal nachließ, trampelten Menschen, Männer wie Frauen, über die Schwelle und brachten ihre Erwartungen mit. Frau. Ist gleich: öffentliches Event. Fühlen Sie sich frei, Lebensart, Meinungen, Entscheidungen, Körper und Psyche zu kommentieren. Bitte Schuhe ausziehen, wir wollen ja keine Kratzer im Parkett.
Maria: Alles Gute zum Geburtstag. Habe überlegt, was ich dir schenken soll. Aber du siehst in letzter Zeit immer so müde aus, weil so viel arbeitest. Also hab ich mich beraten lassen. Das Vitamin-C-Serum enthält Antioxidantien, strafft die alternde Haut und frischt den müden Teint auf.
Jenna: Was soll ich jetzt dazu sagen?
Maria: Sag einfach danke.
Jenna: Hast du die Quittung noch?
Ari trat neben sie, in der Hand seinen Americano. Er war etwas hager geworden, aber Jenna fand, dass es ihm stand. Das und sein Salt-and-Pepper-Haar, die kleinen Falten auf der Stirn und um die Augen.
Jenna: Bist du jetzt wieder dauerhaft hier?
Ari: Ja. Ich habe es in den USA nicht mehr ausgehalten.
Jenna: Politisch und persönlich?
Ari: Ist doch ein und dasselbe.
Ein Fahrradfahrer überquerte vor ihnen die Straße, ohne nach rechts und links zu schauen. Die Klingel am Lenker schepperte, als das Rad über den abgeschrägten Bordstein rollte.
Ari: Bist du glücklich?
Jenna: Nein. Ich habe nicht den Eindruck, noch allzu viel Platz zu haben.
Ari: Politisch oder persönlich?
Jenna: Ist doch ein und dasselbe.
Ari schlürfte geräuschvoll seinen Café Americano leer.
Ari: Bist du noch mit Lars …?
Jenna: Nein.
Eine kühle Brise schüttelte die Wipfel der Bäume durch. Jenna raffte ihren Trenchcoat und stand auf.
Jenna: Heute Abend Kiosk?
Ari: Du hast die alte Wohnung noch?
Jenna: Was hast du denn gedacht?
II. Die Grenzen des Königreichs
Nach dem Flat White in der Blumenstraße spazierte Jenna durch die Weststadt, grüßte den Kioskbetreiber am Danteplatz und stieg nach oben in die vierte Etage des renovierten Fin de Siècle-Mietshauses. Unter ihrem angelaufenen Namensschild hing eine weitere Metallplakette: The Kingdom Games.
Obwohl die Plakette dort schon seit zwei Jahren hing, musste Jenna bei ihrem Anblick immer noch lächeln. Doch als sie die Tür aufschließen wollte, spürte sie Widerstand von der anderen Seite. Jenna seufzte, stellte den Bambusbecher auf dem Boden ab, zog den Türknauf zu sich heran, drehte den Schlüssel und gab der Tür einen Schubs. Sie schwang einen Spalt auf, durch den Jenna einen Fuß nach drinnen steckte und dem Karton einen Fußtritt gab.
Jenna warf ihren Wohnungsschlüssel in die Glasschale auf der Kommode, stellte den Bambusbecher ab und hängte ihren Trenchcoat an den Haken. Dem Karton zu ihren Füßen verpasste sie einen wütenden Blick. Dann goss sie sich etwas Wasser in ein Glas und nahm vor dem Computer Platz. Bevor sie losgegangen war, hatte sie ihn nur in den Ruhemodus versetzt. Nun leuchtete ihr ein fluoreszierender Nachthimmel entgegen, Starlight Animation. Ein Geburtstagsgeschenk ihres Programmiererteams.
Programmiererteam: Für die Queen des Königreichs. Auf einen erfolgreichen Launch!
Jenna war gerührt gewesen. Vor allem hatte ihr die Starlight Animation besser gefallen als das Vitamin-C-Serum.
Auf ihrem Bildschirm leuchtete einen Pushbenachrichtigung: Code review. 15 Uhr. Jenna schickte eine Terminerinnerung an das Programmierteam und rückte ihr Headset zurecht. Dann eine Nachricht auf dem Smartphone.
Finn: Du und ich, heute Abend?
Jenna: Nein, treff‘ mich später mit meinem Ex.
Finn: Too much information.
Jenna: Stell dich nicht so an. Du hast mir beim letzten Mal doch erzählt, dass du in deine Kommilitonin Isa verknallt bist.
Finn: Fair enough. Dann viel Spaß!
Aubergine. Hotdog. Donut. Grapefruit. Zunge. Banane. Flamme. Zwinker, zwinker.
Ob es ihn störte, dass sie beide so ein Klischee waren?
Finn: Was meinst du? Du bist Faust und ich bin Gretchen? Dein Freud’scher Versprecher? Deine Midlife-Crisis, nachdem du Mr. Perfect abgesägt hast?
Jenna warf einen Blick über die Schulter und betrachtete den Amazonkarton.
Schuld war nur Lars‘ aggressive Raumforderung! Ein Tumor im Organismus entstand dann, wenn Erbgut beschädigt oder Informationen falsch abgelesen wurden. Und nachdem Kingdom Games Erfolg gehabt hatte, hatte Lars Schwierigkeiten gehabt, das Wort „Männlichkeit“ richtig abzulesen.
Hätte Jenna schon Schluss machen sollen, als er begann, Mindset-Podcasts zu hören und so viele Gewichte zu stemmen, bis er eine Sehnenscheidenentzündung bekam? Oder als er ständig an der Trading App klebte und darüber faselte, wie es mit Bitcoins lief? Spätestens jedoch, als er sie fragte, ob sie die Türplakette The Kingdom Games nicht abnehmen könnte.
Lars: Bist du jetzt narzisstisch oder was?
In einem Anflug von trennungsbedingtem Selbsthass hatte Jenna um drei Uhr morgens fünf Kilo Diätpulver auf Amazon bestellt. Sie hatte sich selbst noch nicht verziehen – nicht weil sie sich von Lars verabschiedet hatte. Sondern weil sie so lange dafür gebraucht hatte.
III. Relative Romantik
BEINAH-GROSSE LIEBE.
Jenna sah die Leuchtschrift vor ihren Augen, nicht zu übersehen. In ihrer Vorstellung hatte sie Ähnlichkeit mit dem Retroschild über dem Späti, in dem Ari damals vor fünfzehn Jahren gejobbt hatte.
Der Kellner brachte ihr einen Gin Tonic. Jenna fischte nach dem Zitronenschnitz. Hartnäckig entwischte er ihrem Strohhalm, umso mehr, je beharrlicher sie es versuchte. Da überquerte Ari die Schienen der Straßenbahn und kam auf sie zu. Sie lächelte ihn an, obwohl sie in genau diesem Moment eine zweite Leuchtschrift vor sich sah, direkt über seinem Kopf:
ZURÜCKWEISUNG.
Jenna und Ari: Schön, dich zu sehen.
Keine Lüge. Jenna kam es so vor, als nahmen sie alle am Tisch Platz. Ihr altes Ich, sein altes Ich, die beiden Ehemaligen der Gegenwart. Aber auch: die Liebe, die Erwartungen und die Enttäuschung. In versammelter Runde saßen sie da, prosteten sich zu und schauten sich in die Augen, als sie versuchten, die vergangenen Jahre in unbeholfene Worthülsen zu packen.
Um halb elf war Jenna beim dritten Gin Tonic, Ari bei der fünften Zigarette. Das Glas war halbvoll, am Boden trieb der ausgefranste Zitronenschnitz herum. Längst hatten sich die Bitterstoffe im letzten Schluck verteilt.
Jenna: Das hier wird nichts oder?
Ari: Tut mir leid. Es geht einfach nicht. Nicht bei allem, was los ist.
Jenna: Klar. Das war damals schon dein Lieblingsspruch.
Sie leerte ihr Glas und klemmte etwas Geld unter den Aschenbecher.
Ari: Sei nicht zynisch. Ich habe es vermisst, mit dir zu reden. Ich glaube, es täte uns gut, Freunde zu sein. Wir hätten wenig zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Vermutlich wäre das auch besser für dich, nach der Geschichte mit Lars.
Er schaute zu ihr auf, als sie ihren Mantel anzog.
Jenna: Weißt du, ich glaube dir sogar, dass du dir das alles erfolgreich einredest. Dass du nicht mit mir spielst, sondern nur tust, was das Beste für mich ist. Wie ausgesprochen edel von dir. Melde dich, wenn du unterscheiden kannst zwischen dem, was du willst und dem, was du für eine sichere Sache hältst. Aber vorher ruf‘ lieber nicht an.
Sie verschwand in der Dunkelheit.
Es ist der 4. April, sechzehn Uhr einundvierzig.
Als Jenna sich eine Tasse Kaffee aus der Küche holt, stößt sie sich den rechten Zeh am 5-Kilo-Amazonpaket. Scheiße – Kleid ist ruiniert, Zeh tut höllisch weh. Sie zieht sich das mit Kaffee getränkte Kleid über den Kopf und tastet ihren Zeh ab. Könnte gebrochen sein. Ihr Smartphone plongt. Ari. Wer sonst.
Jenna atmet durch. Sie will den Messenger schließen, wischt aber zu hektisch auf dem Display herum – Spotify-Shuffle.
Podcaster: Versuchen wir folgende Übung. Stell dich vor den Spiegel und sieh dich an. Werde dir klar darüber, wie stark du bist. Nur du kannst dir helfen, der Mann zu werden, der du sein willst. Lass dich durch nichts von dem abbringen, was du willst. Schon gar nicht, weil eine Frau dir Stress macht. Wie kannst du es wagen, nicht du selbst zu sein?
Das Smartphone fliegt in die Ecke. Aus Jennas Hals, in dem die Gin Tonics von letzter Nacht brennen, kämpft sich ein tiefer Schrei. Etwas Ursprüngliches und Ungehemmtes.
Trotz schmerzendem Zeh stürzt sie ins Bad, reißt das Vitamin-C-Serum aus dem Spiegelschrank, öffnet die Balkontür, späht kurz nach unten und wirft den Glastiegel auf den Bürgersteig.
Jenna: Danke für nichts!
Coupons fliegen hinterher, die sie in der Zeit mit Lars gesammelt hat, wie kleine Papierflieger. Aus und vorbei. Den alten Männern unten am Kiosk, die Anzügliches zu ihr herauf rufen, zeigt sie nur den Mittelfinger. Jenna sieht sich in der Wohnung um, erblickt das 5-Kilo-Paket Diätpulver. Es tut weh, es vom Boden aufzulesen und damit den rechten Zeh zu belasten. Aber zu sehen, wie das Paket auf dem Bürgersteig aufplatzt und sich das weiße, verdammte Pulver über das Pflaster verteilt, ist die Anstrengung wert. Jenna macht sich ein weiteres Mal auf zur Küche, holt sich eine Flasche Rotwein, ein Glas und eine Packung Zigaretten. Als sie den Balkon betritt, schauen ausnahmslos alle Kunden des Kiosks am Danteplatz zu ihr hinauf. Gierig sind sie, haben ein bisschen Lust auf Theater.
Alte Dame: Nun ist’s aber gut. Ihr jungen Frauen wisst nie, wann Schluss ist. Was ist das da auf dem Gehsteig? Kokain? Sind Sie auf Drogen? Wenn das so weitergeht, klingelt bei Ihnen die Polizei.
Jenna: Na, tun Sie sich mal keinen Zwang an.
Jenna setzt sich auf den Liegestuhl, gießt sich etwas Rotwein ein und zündet sich eine Zigarette an. Sie nimmt einen Zug und schaut nach oben, zu den verzierten Giebeln und dem Erkerfenster im sechsten Stock. Rauch steigt auf. Draußen werden die Rufe lauter, die Menschen im Publikum lachen sie aus, bemitleiden sie, spekulieren über ihre Motive. Sie alle hoffen auf ihren nächsten Auftritt, einen Ausraster, eine Erklärung, etwas Rührseliges oder Komisches, etwas, das man seinen Freunden oder Arbeitskollegen erzählen kann. Doch Jenna bleibt ruhig liegen. Auch als sie die Sirene hört.
Zur Autorin: Bella Bender arbeitet als Freie Autorin und Lektorin. Beim Periplaneta Verlag in Berlin erschien »Die artgerechte Haltung von Gedanken«. Sie bloggt unter »storiesmattr« und arbeitet an einem Coming of Age-Roman. In ihrer Freizeit begeistert sie sich für Geschichte, trainiert Taekwondo und spielt Minecraft.
Homepage: bellabender.de Instagram: https://www.instagram.com/benderbella/
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Dieser Text wurde am 1. März 2025 bei der Lesung »Versteckte Erinnerungen zwischen Marktplatz und alten Gassen« vorgetragen. Die Lesung wurde von Leila Mousavi für den Stadtteilverein Neuenheim organisiert. Mitgewirkt haben als Autor:innen Bella Bender, Jakob Burgi, Patrizia Hinz, Katrin Uhrich und Leila Mousavi sowie Torsten und Leonard Bur als Musiker.
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